Verrückt nach Karten – Geniale Geschichten von fantastischen Ländern

Originaltitel: The Writer’s Map: An Atlas of Imaginary Lands  Autor: Huw Lewis-Jones [Hrsg.]  Umfang: Hardcover, 256 Seiten, 21.8 x 30.7 cm  Verlag: wbg Theiss, Juni 2019  ISBN: 978-3-8062-3931-7  Preis: 34 Euro

© wbg Theiss

Ich liebe Karten. Drückt mir einen Atlas in die Hände und ich kann mich stundenlang mit wachsender Begeisterung beschäftigen. Karten zieren meine Wände, Karten ziehen mich magisch an. Ob gedruckt oder per App, ich reise mit ihnen an andere Orte und erkunde mir bekannte und unbekannte Flecken dieser Welt.

Vermutlich war diese Liebe immer da. Entdeckt habe ich sie im Kindesalter, als mir meine Mutter ihren alten Diercke-Atlas zeigte – so ein brauner mit Goldschrift. Sie erklärte mir sogleich, dass einige Grenzen und Namen nicht mehr aktuell sind. Simbabwe, das hieß darin noch Rhodesien. Wo es zu finden war, das wusste ich noch bevor ich die Gründe für den Namenswechsel verstand. Ich war Feuer und Flamme. Mein Horizont war bis dahin so klein und jetzt begann ich endlich zu verstehen – wo ich bin.

Ich malte meinen eigenen Atlas. Mehrere Abende saß ich auf dem Wohnzimmerboden, umgeben von kleinen Blättern, auf denen ich aus dem Atlas heraus Länder in ihren Konturen abzeichnete und die Hauptstädte markierte, bis ich alle beisammen hatte. Dieses „Frühwerk“ verlor ich leider schon bald an eine Altpapiersammlung. Bald genügte die Welt nicht mehr und ich lieh mir Kinder-Astronomie-Bände aus der Bücherei. Als ich über das Sonnensystem bis zur Milchstraße gereist war und merkte, dass hier langsam die Grenzen dessen, was wir aufzeichnen können, erreicht waren, war mein Wissensdurst ein wenig gestillt. Hier wohnen Drachen. Oder Aliens.

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Klar, wollte ich jetzt Astronaut werden. Meine spätere Körpergröße und Physiknote hatten jedoch andere Pläne. Vor hunderten von Jahren hätte ich vermutlich versucht, mir die Brüste wegzubinden, um bei einer Entdeckungsreise anzuheuern und wäre auf der Suche nach der Nordwestpassage erfroren. Als Teenager kanalisierte sich diese Liebe in eine Begeisterung für Science-Fiction und Geschichten jeglicher Art, ganz gleich ob geschrieben, gesprochen oder verfilmt. Nach dem Abi packte ich den Rucksack und war erstmal weg. Reisen und Wegsein, ich brauche das, sonst werde ich unglücklich. Immer dabei habe ich eine Karte. Sie inspiriert mich, leitet mich und erinnert mich rückblickend.

„Ich höre, dass es Menschen gibt, die sich nichts aus Karten machen, und es fällt mir schwer, das zu glauben.“ (Robert Louis Stevenson, 1894)

Mir auch, denn ich bin Verrückt nach Karten – so der deutsche Titel des wunderbaren Buchs „The Writer’s Map: An Atlas of Imaginary Lands“, welches sich ganz den fantastischen Welten bzw. den Landkarten in der Literatur widmet.

Der britische Historiker Huw Lewis-Jones versammelt in dem Werk Essays von Autoren, literarischen Kartographen und farbenprächtige Bilder vielerlei Karten. Es ist eines jener Bücher, das ich zunächst über Wochen durchgeblättert habe und mir zuerst die zahlreichen Karten angesehen habe, bevor ich mit dem Lesen der Texte begann. So zitiert Lewis-Jones auch J.R.R. Tolkien „Ich begann wohlweislich mit einer Karte und machte die Geschichte passend.“ Auch Stevensons „Die Schatzinsel“ existierte zunächst als Karte, durch deren Betrachtung die Charaktere und Geschichten zwischen den Wäldern erst Gestalt für den Autoren annahmen. Die Beziehung zwischen einer Karte und literarischer oder erzählerischer Schöpfung ist der Knotenpunkt aller Kapitel in „Verrückt nach Karten“.

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Die Autoren berichten von den Karten, die sie selbst inspiriert haben, davon, wie Karten für das „Worldbuilding“ in ihren Geschichten unerlässlich sind, als Anfangspunkte oder als Orientierung. Philip Pullman („His Dark Materials“) erzählt neben eigenen Skizzen von einer Karte, die er für eines seiner Frühwerke zeichnete. Joanne Harris („Chocolat“) beschreibt ihre Faszination für nordische Karten und vom neuseeländischen Künstler Daniel Reeve erfährt der Leser mehr von seiner Gestaltung der Karten und Kalligrafie für die Filmreihen „Der Herr der Ringe“ und „Der Hobbit“.

Die Grafikdesignerin Miraphora Mina wiederum hat die „Marauder’s Map“ bzw. „Die Karte des Herumtreibers“ für die Harry-Potter-Filme gestaltet, eine Karte, die sich beim Betrachten jedes Mal verändert und etwas Neues enthüllt. Im Kapitel „Unheil angerichtet“ berichtet sie von ihrer Entstehung. Mina ist es auch, die den Brief an Harry im ersten Film schuf, mit Worten, die selbst schon wie eine Karte klingen: Mr. H. Potter. Im Schrank unter der Treppe. Ligusterweg 2. Little Whinging. Surrey.

Neben David Mitchell („Der Wolkenatlas“) und Abi Elphinstone („Sky Song“) findet sich auch ein Essay von Cressida Cowell („Drachenzähmen leicht gemacht“) sowie Karten und Texte zu Narnia, dem Mumintal, Nimmerland, Westeros und anderen fantastischen Welten. Das alles liest sich gut in „Häppchen“, manchmal hätte ich mir mehr Details gewünscht. Anders jedoch als bei den Karten, sind die Texte vor allem dann interessant, wenn man die Autoren, die Welt, die Filme oder die Bücher kennt. Kenntnisse von englischer Fantasy- oder Jugendliteratur sind also definitiv hilfreich.

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Kapitel Vier („Karten lesen“) ist prinzipiell eine thematische Resterampe, worin sich der Herausgeber etwas vom literarischen Kern löst. Doch gerade hier wird es vielseitig, wenn u.a. Lev Grossmann über RPG-Karten aus Dungeons and Dragons berichtet. Oder die großartige TV-Moderatorin und Autorin Sandi Toksvig jene weiblichen Kartografinnen wie Gertrude Bell, Phyllis Pearsall oder die Nonnen des Klosters Ebstorf aufzählt, die sie gerne kennengelernt hätte. Leider ist dieser Abschnitt kurz und mir fehlen beispielsweise weitere Texte von Game-Designern von Brettspielen und Computerspielen – Welten, aus denen Karten ebenfalls nicht wegzudenken sind.

Es gibt also noch viel zu entdecken! Denn als Leserin von Geschichten und Karten möchte ich natürlich dorthin, wo Drachen vermutet werden. An die Ränder der Welt, wo Unerwartetes geschieht.

Die Summe an charmanten Essays mit ihren Erfahrungen und Anekdoten als Ganzes unterstreicht die Faszination und Begeisterung ihrer Autoren für Karten und das ist entweder ansteckend oder man fühlt sich als kartenverrückte Leserin von all diesen kreativen Köpfen verstanden. Denn Autoren und Leser eint die Liebe zu Karten, die aus den Seiten dieses, von Hanne Henninger für den wbg-Theiss-Verlag sehr gut übersetzten, Werks tropft. Denn was ist schon eine Karte?

Richtet sich mit diesem Buch in einer leeren Ecke am Rand der Karte häuslich ein und pustet gelegentlich Wind über den Kompass neben dem Seeungeheuer: Sonja.


Auf der Webseite des Verlages finden Sie eine Leseprobe.
Wer vorab schon mal blättern möchte:

3 Kommentare zu „Verrückt nach Karten – Geniale Geschichten von fantastischen Ländern

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