Atlas of Dark Destinations

Autor: Peter Hohenhaus  Verlag: Laurence King Verlag, September 2021  Umfang: 320 Seiten, 25.7 x 19 cm  ISBN: 978-1-91394719 4  Preis: 24 Euro

© 2020 Laurence King Publishing, Ltd, London

Vor 14 Jahren habe ich mal einen „Death Waiver“ unterzeichnet. Damit verzichtete ich bewusst auf irgendwelche Konsequenzen, sollte ich verletzt oder getötet werden. Keine Stunde später stand ich ein paar Schritte in Nordkorea. Die Grenze zwischen Süd- und Nordkorea ist die in Wirklichkeit hochmilitarisierte sogenannte „Demilitarisierte Zone“ (DMZ). Die einzige Stelle, an der sich die Soldaten beider Seiten direkt gegenüberstehen, heißt Panmunjom. Der Ort, an welchem 1953 der Waffenstillstand verhandelt wurde.

In dieser gemeinsamen Sicherheitszone stehen direkt auf der Grenzlinie blaue UN-Hütten, in denen man sich bis heute für Verhandlungen trifft. Eine davon kann auf einer Tour besichtigt werden, zumindest damals war dies nur mit USO-Touren des US-Militärs möglich. Wir erhielten einige Warnungen und Benimmregeln, besuchten die Brücke ohne Wiederkehr, einen Invasionstunnel und ich blickte auf die Minenschilder entlang der Straßen.

Als ein Lastwagen, auf dessen Ladefläche viele Soldaten dicht gedrängt saßen und mir lächelnd zuwinkten, drehte sich mein südkoreanischer Guide zu mir und stellte mir lachend die rhetorische Frage: „South Korean or North Korean soldiers?“ Zurück in Seoul erzählte mir eine Südkoreanerin, dass sie an eine baldige Wiedervereinigung mit dem Norden glaube. Nach meinem Grenzbesuch hatte ich daran starke Zweifel.

Panmunjom ist ein so bedrückender wie lehrreicher Ort über einen bis heute andauernden Konflikt. Es ist eines von 300 Reisezielen, die Peter Hohenhaus in seinem in englischer Sprache im Laurence King Verlag erschienenen Atlas of Dark Destinations vorstellt. Der gebürtige Hamburger Hohenhaus betreibt die Webseite dark-tourism.com und stellt darin einige der dunkelsten Ecken der Welt vor, die er fast alle selbst besucht hat.

„Dark Tourism“ heißt dieses Phänomen, das mehr umfasst als ein Gegenentwurf zum klassischen Erholungsurlaub zu sein und keinesfalls unumstritten ist. Ich war skeptisch, was mich erwartete, als ich das handliche Buch aufschlug. Habe ich es hierbei mit geschmacklosem Nervenkitzel-Tourismus zu tun, wie ihn zum Beispiel Influencer betreiben, die sich im japanischen Aokigahara vor Leichen filmen (Webseite) oder in einem Ossarium für den Beifall ihrer Instagram-Follower posen? Hohenhaus’ Einleitung beruhigte mich schnell und ließ mich wissen, dass ich es mit einem reflektierten Reiseführer zu tun habe…

© James Eades, Unsplash, in Atlas of Dark Destinations, 2020 Laurence King Publishing, Ltd, London

Auf 350 Seiten finden sich Orte, die historisch mit Tod und Tragödie in Verbindung gebracht werden, sei es durch Kriege, Diktaturen oder Naturkatastrophen. Der Autor distanziert sich von Fehlverhalten und Slumtourismus (Wikipedia), sehr gefährlichen Besuchen von Kriegsschauplätzen sowie paranormalen Reisezielen. Wie immer bei moralischen Fragen, wird hierbei jeder Mensch seine eigenen Grenzen haben.

Ich selbst musste feststellen auch ein Dark Tourist zu sein, da ich mindestens 24 der hier vorgestellten Orte bereits mit eigenen Augen gesehen habe – von Derry in Nordirland bis zu den zahlreichen historischen Orten Berlins. Doch meine Grenze spüre ich beim Thema Tschernobyl, einem der favorisierten Ziele des „Dark Tourism“ der letzten Jahre. So faszinierend und entsetzlich diese apokalyptische Gegend in der Ukraine auch sein mag, ich möchte sie nicht besuchen. Ein Foto dieses Orts ziert die Rückseite des Buchs, während auf der schwarzen Vorderseite die Namen der Orte in winziger Schrift einen Kreis formen, der einem schwarzen Loch gleicht.

Das Kompendium ist geographisch strukturiert in Kontinente, innerhalb derer die verschiedenen Destinationen nach Ländern angeordnet sind. Das wesentliche Ziel ist es, mit Text und Bild einen kurzen Überblick über die 300 Orte in 90 verschiedenen Ländern zu vermitteln. Dabei handelt es sich u.a. um Gefängnisse, Konzentrationslager, Vulkane, Tatorte, Museen, Friedhöfe und Geisterstädte.

© Freda Bouskoutas Getty Images in Atlas of Dark Destinations, 2020 Laurence King Publishing, Ltd, London

Jedes Reiseziel wird auf einer Karte markiert, wenn möglich bebildert, und zur leichten Einordnung verschlagwortet sowie mit zwei Wertungsskalen versehen, die nicht unbedingt nötig gewesen wären, weil sie wenig Mehrwert bieten: Sterne von 1–5 sind eine allgemeine Qualitätsangabe, welche die Durchführbarkeit des Besuchs widerspiegeln soll, das heißt wie u.a. zugänglich, multilingual die touristische Erfahrung ist. Auf einer Skala von 1–10 Totenköpfen wird der „Darkness-Faktor“ bewertet, auf Basis der Geschehnisse vor Ort. Wenig überraschend haben Orte eines Genozids die volle Wertung, während indirekte Plätze des Gedenkens weniger finster sind. Ein kurzes schriftliches Fazit für jedes Ziel wäre besser geeignet zur schnellen Bewertung.

Besonders positiv zu erwähnen sind die thematischen Kästen, die weiterführende Informationen erhalten und die kurzen Einleitungen der Zielländer. Sie bieten genau den nötigen Kontext für jeden Ort. Der Autor erwähnt, dass seine 2020 geplanten Reise nach Namibia coronabedingt nicht stattfinden konnte. Ich selbst jedoch war bereits in der Geisterstadt Kolmanskop, die ich als nicht besonders bedrückend, dafür aber äußerst fotogen empfunden habe. Wohingegen mir im nahegelegenen Lüderitz von Einheimischen vom ersten Genozid des 20. Jahrhunderts berichtet wurde: unter deutscher Kolonialherrschaft wurde ein Großteil der Herero getötet. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen landete in Konzentrationslagern, einem Konzept, das man sich von den Engländern aus den Burenkriegen abgeschaut hatte. Ein solches Camp befand sich auf Shark Island, einer felsigen Halbinsel vor Lüderitz. Die Gefangenen wurden medizinischen Experimenten ausgesetzt und über 90 Prozent von ihnen starben. Dies neben Kolmanskop nicht zu erwähnen wäre ein großes Versäumnis, doch der vorliegende Atlas enthält genau diese Information.

Die Welt ist voller Orte mit dunkler Vergangenheit. Aus welchen Gründen wir sie auch immer aufsuchen, wir sollten dies mit Respekt tun. Hierbei hilfreich ist, sich vorab über diese Geschichte zu informieren. Der Atlas of Dark Destinations bietet dafür einen hervorragenden Einstieg. Ein spannendes, vielseitiges und durchaus schönes Buch, welches sich besonders als Geschenk für alle Reisefreunde eignet.

Gelesen und beeindruckt war Sonja, die hofft, bald wieder ihren Anker lichten zu können

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