Rachilde: Monsieur Vénus

Autorin: Rachilde  Verlag: Reclam, September 2020  Umfang: 218 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Format 12.5 x 20.5 cm  ISBN: 978-3-15-011287-8  Preis: 18 Euro, 15.99 Euro (E-Book) – Ein Beitrag von Julian Dax:

Das Timing könnte kaum idealer sein: Während trotz Corona weltweil die Gender-Debatte nach wie vor in unverminderter Vehemenz  tobt, erscheint in Deutschland erstmalig, und das auch noch in vollständiger Fassung, Monsieur Vénus, den man als veritablen Skandalroman seiner Zeit bezeichnen könnte. Marguerite Eymery, geboren 1860 im ländlichen Périgord, begibt sich im Alter von 21 Jahren nach Paris. Dort nimmt sie das männliche Pseudonym Rachilde an, schneidet ihr Haar kurz und lässt sich von der zuständigen Behörde die Erlaubnis erteilen, Männerkleidung tragen zu dürfen. Auf ihre Visitenkarte lässt sie drucken: „Rachilde. Homme de Lettres.“ Unter diesem Namen veröffentlicht sie eine ganze Reihe von Werken und führt daneben auch einen viel beachteten literarischen Salon. 1953 stirbt Rachilde in Paris im Alter von 93 Jahren.

Rachilde wusste wohl, welch hohe Wellen das Werk schlagen würde, das sie berühmt machte, und so ließ sie Monsieur Vénus 1884 zunächst einmal nur in Belgien drucken. Aufgrund dieser Erstausgabe wurde sie prompt in Brüssel zu zwei jahren Gefängnis sowie einer Geldstrafe in Höhe von 2000 Francs verurteilt. Da sie allerdings von da an niemals wieder belgischen Boden betrat, blieb sie straffrei.
Worum geht es nun in diesem damals als so unerhört skandalös empfundenem Werk? Raoule de Vénérande ist eine junge Frau aus gutem Hause. Als sie eine Schneiderin ausucht, um sich ein extravagantes Kostüm für einen Maskenball schneidern zu lassen, lernt sie deren Bruder Jacques kennen, den sie sexuell äußerst attraktiv findet, obwohl bzw. gerade weil er nicht gerade einem männlichen Idealbild entspricht. Da die Geschwister in einer heruntergekommenen Bruchbude hausen, findet sie schnell eine schöne Wohnung, in die sie Jacques einquartiert. In Umkehrung der damals herrschenden Verhältnisse nimmt sie sich also als Frau einen Geliebten, der im Laufe des Geschehens auch noch immer weiblichere Züge annimmt. Sie selbst bringt es folgendermaßen zum Ausdruck: „Ich werde Jacques lieben, wie ein Verlobter ohne jede Hoffnung seine tote Verlobte liebt.“
Baron de Raittolbe, der seinerseits Raoule bereits einen Heiratsantrag gemacht hat, erklärt sie, dass sie keine übliche Verbindung mit einem Mann erstrebe, sondern erstmals in ihrem Leben ein wirklich Verliebter (!) sei, und zwar liebe sie einen Mann, „dessen Seele mit ihrer weiblichen Prägung sich in der Hülle vertan hat.“ Noch komplizierter wird das Verhältnis, als sie, auf Raoules Initiative, sogar die Kleider tauschen; fortan trägt Jacques ein Kleid und Raoule einen Gehrock, um “ das vollständige Wesen, von dem die Legenden der Brahmanen erzählen, zwei Geschlechter in einer Gestalt“, zu bilden.
Kompliziert genug? Nicht für die junge Autorin; nachdem Jacques und Raoule geheiratet haben, verliebt sich Baron de Raittolbe ebenfalls in Jacques, was natürlich nur in einer Katastrophe enden kann…
Es muss tatsächlich ein Schock für die damalige Gesellschaft gewesen sein, einer Romanheldin zu begegnen, die genauso agiert wie man es von einem Mann erwarten würde; hemmungslos, dominant, egoistisch, ausschließlich ihren eigenen Ideen folgend. Liest man Monsieur Vénus heute, ist die Schockwirkung natürlich wesentlich geringer in Anbetracht dessen, was sich auf dem Gebiet der Frauenemanzipation seitdem alles getan hat. Dennoch findet man auch heutzutage nicht allzu viele Autorinnen, die derart radikal alle vorherrschenden Vorstellungen von dem, was man gemeinhin als „männlich“ bzw. „weiblich“ definiert über Bord werfen.
Im Vorwort zur zweiten Auflage des Romans im Jahre 1885 schreibt Arsène Houssaye: „Das Herz ist ein Käfig, in dem man die Liebe unter Verschluss hält und ihr verbietet, allzu laut zu singen. Das Schamgefühl verlangt es. Doch manchmal kommt es vor, dass die Tür dieses Käfigs sich öffnet, wenn nur eine leichte Aprilbrise sie anstößt; dann singt der aufgebrachte Vogel draußen und streift das Schamgefühl mit einem Flügelschlag ab.“
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