Autor: Travis Elborough, Martin Brown (Karten) Verlag: KOSMOS, 2019 Umfang: Hardcover, 25.9 x 18.5 cm, 208 Seiten, 45 SW-Fotos, 45 Farbzeichnungen ISBN: 978-3-44016546-1 Preis: 28 Euro

Kennen Sie die japanische Katzeninsel oder die Opale suchenden Höhlenbewohner Australiens?
„Bitte nicht die Hülle lesen, sondern einfach anschauen“, das gebe ich Freunden oft als Bitte mit, wenn ich ihnen einen Film ausleihe. Denn nicht selten schürt der Marketingtext Erwartungen, die der eigentliche Film nicht halten kann. „Der ist ja gar nicht lustig“, hört man von Enttäuschten, denen das Cover „Die Komödie des Jahres!“ versprochen hat. Coppolas „Lost in Translation“ ist ein melancholisches Drama über Einsamkeit und existentielle Rat- und Schlafloslosigkeit mit einer Prise Tokyo-Kulturschock. Eine Komödie ist er nicht, nur weil Bill Murray darin Suntory schlürft….
Der Atlas des Unerwarteten wird auf seinem Einband ebenfalls mit Superlativen belastet: Der ‚Atlas des Unerwarteten‘ bringt die 45 außergewöhnlichsten und bizarrsten Orte auf unserem Planeten ans Tageslicht. Dem ist nicht so, denn jedem Leser fällt sicher ein bizarrerer Ort ein als Chemainus auf Vancouver Island in Kanada, das vor Jahrzehnten beschloss, sich mit zahlreichen großen Wandgemälden zu schmücken, welche die Geschichte des Orts abbilden. Eine besondere Eigenheit ist es allemal. So stapelt der Untertitel des Buchs tiefer: „Außergewöhnliche Orte und ihre Geheimnisse“ heißt es da. Das ist weit angemessener. So schreibt der Autor in seiner Einführung selbst:
Der Atlas des Unerwarteten ist eine Sammlung von Orten – seltsamen und bezaubernden, alten und modernen–, die auf einem glücklichen Zufall beruhen oder ganz unbeabsichtigt entdeckt wurden, wie so vieles im goldenen Zeitalter der Entdeckungen. Das Unerwartete kann ein Teil der Geografie oder Architektur eines Ortes sein oder ein aktueller oder vergangener Zustand. Die manchmal unvorstellbaren und fast immer unbewohnbaren Orte erinnern uns an die andauernde Fremdartigkeit unseres Planeten.
Mag die Auswahl des Kulturjournalisten Travis Elborough doch reichlich willkürlich wirken, so macht genau dies den Charme des Bands aus dem KOSMOS-Verlag aus. Neben allseits bekannten Orten wie Pompeji, Madeira oder den Galápagosinseln gibt es hier eine Vielzahl ungewöhnlicher Flecken zu entdecken.
Elborough sortiert die 45 Orte in fünf übergeordnete Kapitel (in Klammern das weniger prosaische englische Original):
1. Zufällige Entdeckungen (Accidental Discoveries)
2. Seltsame Ursprünge (Strange Roots)
3. Reiseziele auf Gut Glück (Haphazard Destinations)
4. Höhlen (Cavernous Locations)
5. Einzigartige Landschaften (Serendipitous Spaces)
Die spannendste zufällige Entdeckung sind sicherlich die Schriftrollen vom Toten Meer. Wie diese in Qumran in Israel gefunden wurden und welche Reise sie genommen haben, sei hier nicht verraten. Die bereits benannten und bekanntesten Reiseziele sind direkt im ersten Abschnitt des Atlas beheimatet.
Weitere Highlights finden sich in den späteren Kapiteln: Wie der Freshkills Park in New York, der seinen Ursprung als Mülldeponie der Stadt hat. Vor rund zwanzig Jahren nahm er den Schutt des World Trade Centers auf und hat sich nach seiner Stilllegung heute in ein Ökosystem gewandelt, fast drei Mal so groß wie der Central Park.
Manshiyat Naser in Kairo ist ein „informeller Stadtteil des Mülls“. Die meist koptischen Zabbalin (Müllsucher) leben dort auf 5,5 Quadratkilometern. Diese etwa 60.000 Menschen sorgen auch heute noch mit ihren Karren und kleinen Lastwagen für eine zusätzliche Müllabfuhr, da dies oftmals die einzige Tätigkeit ist, die sie ausüben dürfen. Ihre Höhlenkirche Sankt Sama’an ist die größte Kirche im Nahen Osten mit einer Kapazität für 20.000 Gläubige, die in Form eines Amphitheaters in den Berg Mokattam geschlagen wurde.
2000 Bohrinseln im Kaspischen Meer, verbunden durch ein chaotisches Netz aus 300 Kilometern (im Buch sind es 3500 km, wobei es sich nur um einen Fehler handeln kann) Stahl- und Holzbrücken bildeten zu Sowjetzeiten eine riesige schwimmende Metropole. In Neft Dashlari, 70 Kilometer östlich von Baku in Aserbaidschan, lebten hier bis 5000 Menschen – mit einem Kino, einem Park und Fußballplatz. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird hier noch heute Öl gefördert, doch der Ort ist baufällig geworden und sieht einer ungewissen Zukunft entgegen.
Schwimmen tun auch die künstlichen Inseln der Urus im Titicacasee in Peru. Fast alles besteht bei ihnen aus Totoraschilf, von den Wohnhäusern bis zu den Möbeln und Kanus. Die rund 60 Inseln aus riesigen Schilfmatten nahe Puno sind mit Erde bedeckt und fest im Seeboden verankert. Sie müssen konstant ausgebessert oder durch den Bau einer neuen Insel ersetzt werden.
Die Katzeninsel Tashirojima in Japan ist bevölkert von 100 Fischern und hunderten Katzen. Sie sind Nachfahren der Mäusejäger, die in der Edozeit (1603-1868) eingeführt wurden, um die Kokons der Seidenspinner vor Mäusen und anderem Ungeziefer und damit die Seiden- und Textilproduktion der Insel zu schützen. Heute sind die Miezen vor allem eine Touristenattraktion und die Inselbewohner betrachten sie als Glücksbringer, da ihre Insel bei dem Tsunami 2011, der dem Erdbeben von Tohoku folgte, nicht vollständig zerstört wurde.
Die Höhle von Lascaux bei Montignac in Frankreich zählt seit 1979 zusammen mit anderen Höhlen im Tal der Vézère zum Weltkulturerbe der UNESCO. Als „Sixtinische Kapelle der Frühgeschichte“ bezeichnet, finden sich in ihr sehr gut erhaltene Höhlenmalereien von z.B. Stieren, Hirschen und Pferden, deren Alter auf rund 20.000 Jahre geschätzt wird.
Deutlich jünger sind die selbst gegrabenen bzw. gesprengten Höhlen der Einwohner von Coober Pedy in der Wüste von South Australia. Auf der Suche nach Gold wurden Anfang des 20. Jahrhunderts an einem der unwirtlichsten Orte der Welt Opale gefunden. Die kostbaren Edelsteine lockten Schatzsucher an, die vor der großen Hitze bei Tag in die Minenschächte flüchteten und sich alsbald in ihnen wohnlich einrichteten. Heute suchen die 3500 Bewohner Coober Pedys immer noch nach Opalen und leben unter der Erdoberfläche.
Wer schon überall war, der entdeckt im Atlas des Unerwarteten ganz sicher Neues. Die Karten sind gelungen und die Texte sind kurze Häppchen, die einladen, so manchen Ort weiter zu recherchieren. Warum jedoch allen Fotos im Druck die Farbe abhanden gekommen ist, das wird wohl für immer ein Rätsel bleiben. Oder wie ist es zu erklären, wenn der Autor von bunten Landschaften wie dem Zhangye-Danxia-Geopark, dem pinkfarbenen Lake Hillier oder dem Grünen See in Österreich berichtet, der Leser jedoch auf ein Schwarzweißfoto starrt? Denn die Farben machen diese Orte außergewöhnlich. Aber vielleicht handelt es sich bei Bildbeschreibungen wie „Sommer im Hitachi Seaside Park, mit Abermillionen blau blühender Hainblumen, die sich bis zum Horizont erstrecken“ auch nur um eine Aufforderung an all jene Erwachsene, sich die seit Jahren boomenden Ausmalbücher kaufen, die Wachsmalstifte zu zücken und nachzubessern.
Nach diesen Zeilen unerwartet nach ihrem alten Wasserfarbkasten suchend: Sonja.
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