Autoren: Christine Nelson, Pedro Corrêa do Lago, Julius Wiedemann Verlag: TASCHEN, Mai 2019 Umfang: In Leinen gebunden, 17 x 24 cm, 464 Seiten ISBN: 978-3-8365-7681-9 Preis: 30 Euro

„Ich bitte Eure Majestät, davon überzeugt zu sein, dass ich mich gefreut habe, […] und will die Gefühle zärtlicher und beständiger Freundschaft erneuern, die ich empfinde […] “ schrieb Marie Antoinette am 24. September 1788 in Versailles an ihren Schwager Ferdinand IV. König von Neapel, um ihm zur Geburt eines seiner Kinder zu gratulieren.
So prangt es auf dem Einband von Zauber der Schrift. Sammlung Pedro Corrêa do Lago. Der neuen Schatztruhe in Buchform aus dem Hause TASCHEN.
Der Inhalt dieses beinahe 500 Seiten starken und gleichzeitig handlichen Bandes kommt glücklicherweise weit sachlicher daher als sein esoterisch anmutender Titel es suggeriert. So lernen wir aus dem Buch, in dem der gesamte Brief von Marie Antoinette abgedruckt ist, dass innerhalb eines Jahres eben jener Neffe an Pocken sterben sollte. Der Sturm auf die Bastille wiederum den Beginn der französischen Revolution einläutete, der für die Königin auf dem Schafott endete.

Die für das Buch ausgewählten 140 Dokumente stammen aus der Sammlung des brasilianischen Kunsthistorikers und Autographen-Sammlers Pedro Corrêa do Lago. Seit seinem 12. Lebensjahr sammelt er Handschriften und hat über fünf Jahrzehnte eine der größten privaten Kollektionen zusammengetragen, die fast 900 Jahre umspannt.
Ich selbst habe festgestellt, dass Handschriften eine greifbare Verbindung zur Vergangenheit darstellen und wie eine Zeitmaschine funktionieren, die uns auf wundersame Weise mit Menschen verbindet, die diese Papiere vor uns und in der Zeit, in der sie lebten, berührt haben. Diese Stücke sind das engste Band, das wir zu diesen Individuen herstellen können, und sie erlauben uns, ihre Emotionen zu teilen oder an Ereignissen teilzunehmen, die weit vor unserer Geburt stattfanden.– Pedro Corrêa do Lago
Stets sind die Autographen komplett abgedruckt. Daneben werden ihre Urheber genannt und die Schriftstücke zeitlich und situativ eingeordnet. Glücklicherweise findet sich zudem für jeden auch noch so sprachbegabten Leser eine Transkription bzw. Übersetzung. Denn nicht alle verfügen über eine so elegante und gut leserliche Schrift wie z.B. die siebenjährige (spätere) Königin Victoria, Maria Stuart, John Adams oder Paul Gauguin. Letzterer äußert sich in einem Brief besorgt über Van Gogh, den er vor kurzem besucht hatte, um mit ihm in Arles zu arbeiten: „Leider wurde dieser Freund wahnsinnig, und ich lebte einen ganzen Monat unter ständiger Angst vor einem tödlichen oder tragischen Unfall.“
In den Club der großen und geheimnisvoll unverständlichen Kritzler zählen wiederum Napoleon, Simón Bolívar, Marcel Proust, Mata Hari und – wenig überraschend – Pablo Picasso.
Die Schriftstücke sind nach den Sphären ihrer Autoren in die Kapitel Kunst, Geschichte, Geschichte des 20. Jahrhunderts, Literatur, Wissenschaft, Musik, Philosophie, Entdeckung & Eroberung sowie Unterhaltung eingeteilt. Umrahmt werden sie von mehreren allgemeinen Vorworten zur Thematik und der Sammlung, und Literaturtipps, Informationen zur Provenienz der Manuskripte und einem alphabetischen Index auf den letzten Seiten.

Zauber der Schrift verleiht dabei anrührende, amüsante und mitunter prosaische Einblicke in einen kleinen Moment im Leben bekannter Persönlichkeiten der primär westlichen Kultur und Zeitgeschichte – perfekt zum gelegentlichen Blättern, Entziffern und Entdecken. Und ein ideales Geschenk für Freunde der zunehmend aussterbenden handgeschriebenen Briefe. HDGDL und so.
Bedauerlicherweise enthält der Band zahlreiche Autogramme, die sich auf eine Reproduktion eines Fotos mit Autogramm beschränkt, wie z.B. von Abraham Lincoln, Emiliano Zapata, Hirohito, Audrey Hepburn und Al Capone. Doch auch diese mögen mitunter entzücken: So die Eigenart von Sitting Bull, die beiden „i“ seines Namens nicht mit einem Punkt, sondern einem kleinen Häkchen zu krönen, die ein wenig an ein Poesiealbenstil gemahnen und nur einen Schluss zu lassen: Der Stammeshäuptling Sitzender Bulle malte Herzchen als i-Pünktchen!
Weitere Highlights in dieser buchgewordenen Schatulle sind eine päpstliche Bulle aus dem 12. Jahrhundert, ein leicht verwirrter Brief von Leo Trotzki an Frida Kahlo, just als die beiden ihre Affäre beendeten und ein (erfolgloses) BittenJean-Paul Sartres an das Nobelpreiskomitee, ihn nicht auszuzeichnen. Außerdem: Ein mathematisches Manuskript von Albert Einstein und eine Seite aus Stephen Hawking’s „A Brief History of Time“ mit Widmung von einem Star Trek-Fan zum anderen, signiert mit einem Fingerabdruck des Autoren. Autographen, die mit kleinen Zeichnungen von Charlie Chaplin, Henri Matisse, Walt Disney, Jackson Pollock und René Magritte bereichert wurden, sind eine charmante Ergänzung, wie auch simple Bestellungen, wie die von Michelangelo (der Meister benötigte mehr Marmor) oder Rechnungen von Sigmund Freud (20 Stunden = 2000 Schilling) und ein von Ernest Hemingway handschriftlich ausgefüllter Fragebogen zur eigenen Person, bei dem er die Fragen nach Geburt, Ehestand und Karriere mit einem schlichten „Ja“ beantwortet, als Ausbildung „AUSLAND“ schreibt und Schießen und Trinken als Hobbys auflistet.
Möchte ein Sammler übrigens meine alten noch mit Tinte gefüllten Schulhefte? Nein? Sie wissen nicht, was Sie verpassen.
Gez. Sonja
Oh was für ein Schätzchen. Das kommt auf jeden Fall auf meine Wunschliste. Handschriften sind ja so toll!
Vielen Dank für die tolle Rezension!
Grüße Moony
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